Jona und der Wal — Alles ganz normal

Die Handelnden:

Gott: Gott

Jona: Prophet, Drückeberger, wehleidiger Choleriker, völlig humorlos aber im Rahmen seiner Möglichkeiten ein ehrliches Hemd. Hat eine laute Stimme.

Eine Schiffsbesatzung in Gestalt ihres Kapitäns: Seeleute, die reichlich Erfahrung mit ihrem Beruf haben, vor allem darin, in diesem zu überleben.

Ein Sturm: Nimmt seine im Auftrag durchgeführte Tätigkeit sehr ernst, neigt aber nicht zu Übertreibungen und verzieht sich sofort, wenn er nicht mehr gebraucht wird.

Ein Hafenmeister: Frei erfunden.

Ein Wal: Der Wal muss nicht unbedingt ein solcher sein, Hauptsache es ist ein Meereswesen, das einen Menschen am Stück schlucken kann ohne daran Schaden zu nehmen, außerdem mit einer geringen Neigung, geschlucktes zu zerkauen und zu verdauen.

Ninive: Eine echte Megapole. Die größte Stadt der Welt, aber ohne öffentliche Verkehrsmittel. Wie in jeder großen Stadt leben dort Solche und Solche, wobei – wie üblich – die Solchen überwiegen.

Ein Rizinusstrauch: Spendet Schatten, aber nicht dauerhaft.

Ein Wurm: Hindert den oben genannten Rizinusstrauch daran, dauerhaft Schatten zu spenden.

Erster Teil: Im Hafen

Hafenmeister, zum Kapitän (Spricht mit der typischen Sprachfärbung eines Küstenbewohners):

“Dein Kahn sieht etwas ramponiert aus. Irgendwelche besonderen Vorkommnisse, Kaptein?”

Kapitän: “Sturm, eben. Wie so oft.”

Hafenmeister: “Das kommt vor, ist ganz normal. Kann richtig lästig werden. Was ist mit deiner Fracht? Sind dir viele von deiner Mannschaft über Bord gegangen?”

Kapitän: “Jetzt, wo du fragst: Über Bord gegangen ist nur einer. Wollte von Jaffa nach Tarschisch. Zahlender Passagier.”

Hafenmeister: “Hat wohl zu früh gezahlt?”

Kapitän (Tut beleidigt): “Nö. War wohl nicht glücklich mit dem Auftrag von seinem Chef und wollte sich nach Tarschisch absetzen.”

Hafenmeister: “Sowas kommt vor, ganz normal”

Kapitän: “Hat uns aber ordentlich Nerven gekostet.”

Hafenmeister: “Nur einer, das ist ganz normal und muß nicht ins Protokoll. Aber sein Chef hatte wohl kaum etwas mit dem Sturm zu tun?”

Kapitän, (wird etwas redseliger): “Also, das war nun mal so: Fragt der Kerl in Jaffa, wohin wir fahren. Nach Tarschisch, sage ich. Frische Orangen liefern. Ob wir noch Platz für einen Passagier hätten, fragt er. Ob er Geld hätte, frage ich. Was denn eine Außenkabine kosten würde, fragt er. Wir einigen uns auf eine ruhige Ecke an Deck. Bei gelegentlicher Mithilfe, wenn es nötig sein sollte. Ganz normal auf so einem Schiff.”

Hafenmeister: “Und plötzlich kommt der Chef angerannt?”

Kapitän: “Noch nicht, den haben wir eigentlich gar nicht zu Gesicht bekommen.”

Hafenmeister: “Dann hat er wohl jemanden geschickt?”

Kapitän: “Wenn man so will…”

Hafenmeister: “Kommt der also im im Hafen angerannt?”

Kapitän: “Nö. War alles ganz normal. Wir legen ab und fahren los. Bestes Wetter, guter Wind. Machen gute Fahrt.”

Hafenmeister: “Nun lass Dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Bester Wind, bestes Wetter, keiner in Sicht, der dir Ärger wegen deines Passagiers macht. Bis jetzt hört sich das eher nach einer gemütlichen Ausflugsfahrt an.”

Kapitän: “Aber so blieb das nicht. Plötzlich geht ein Sturm los, der sich gewaschen hatte. Ein Kawenzmann nach dem anderen. Hat uns ganz schön durchgeschaukelt. Du kennst das ja aus deiner Zeit auf See.”

Hafenmeister: “Da kann ich dir ein Lied von singen. Meistens irgendein gelangweilter Gott auf irgend einem verlassenen Felsen im Meer, der nichts zu tun hat und auf sich aufmerksam machen will. Lästig, ist aber mit ein paar Gebeten und etwas Öl und Wein meistens leicht zufrieden zu stellen.”

Kapitän: “Dachten wir auch, machen also das Standardprogramm: jeder betet so laut er kann zu seinem Gott, in der Hoffnung, daß der richtige dabei ist. Hat aber nichts geholfen, der Sturm ging weiter.”

Hafenmeister: “Erstmal ganz normal. Den Preis treiben heißt sowas.”

Kapitän: “Genau. Also kommt die nächst teurere Maßnahme: Wir opfern einen Teil unserer Ladung. Genaugenommen doppelter Nutzen: der Gott hat sein Opfer und wir machen nicht mehr so viel Wasser, weil wir leichter werden.”

Hafenmeister: “Darf ich raten, das hat nun auch nicht geholfen.”

Kapitän: “Das kannst Du wohl annehmen.”

Hafenmeister: “Und dann?”

Kapitän: “Dann lasse ich den Leutnant fragen, ob irgendwer von der Besatzung was auf dem Kerbholz hätte. War aber nichts Besonderes dabei, höchstens die eine oder andere vernachlässigte Unterhaltsverpflichtung und natürlich zahllose Schlägereien in Hafenkneipen, aber nichts, was einen gelangweilten Gott in Rage versetzen würde, eher das genaue Gegenteil.”

Hafenmeister: “Ganz normal, das alles.”

Kapitän: “Eben. Aber irgendwas muß doch sein, und da fällt mir der Passagier ein. Den hatten wir unter Deck geschickt, damit er bei dem Sturm der Mannschaft nicht im Weg steht und irgendwann aus Versehen über Bord geht. Dann hatten wir ihn erstmal vergessen, war ja bei dem Sturm genug an Deck zu tun. Und ich sage Dir: Der Kerl hat Nerven. Liegt dort zwischen den Fässern und schnarcht, als wäre das Schiff eine Kinderwiege die vom Sturm sanft geschaukelt wird. Der war kaum wach zu kriegen. Der Leutnant mußte in kräftig rütteln und hat ihn dann etwas unsanft auf die Beine gestellt.”

Hafenmeister: “Und? Weiter!”

Kapitän: “Na, beten sollte er, zu seinem Gott, wer auch immer das wäre, vielleicht könnte der ja etwas gegen den Sturm ausrichten.

Hafenmeister: “Hat es denn geholfen?”

Kapitän: “Erstmal nicht, aber wir haben dann wie üblich das Los geworfen um festzustellen, wer nun schuld an dem ganzen Schlamassel ist und dafür über Bord gehen soll.”

Hafenmeister: “Das ist das approbierte Standardverfahren gemäß Seerecht. Dafür kann die keiner am Zeug flicken.”

Kapitän: ”Aber unangenehm ist es schon, und ein Mann weniger der rudern kann macht die Reise auch nicht leichter, gerade bei Sturm.”

Hafenmeister: “Darf ich raten? Es hat keinen von Deiner Besatzung getroffen…”

Kapitän: “Du sagst es. Den Passagier hat es getroffen.”

Hafenmeister: “Also: Zack über Bord mit ihm, damit der Sturm endlich aufhört!”

Kapitän: “Wo denkst du hin? Wir lassen keinen einfach so über Bord gehen, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Das ist schlecht für die Reputation. Wir haben ihn erstmal etwas eindringlich befragt. Woher er käme und was er so machen würde, und ob das vielleicht etwas mit der aktuellen Wetterlage zu tun haben könnte.”

Hafenmeister: “So etwas kann das Verfahren aber ganz schön verzögern.”

Kapitän: “Das stimmt, aber man darf sich ruhig Zeit für etwas Gerechtigkeit nehmen. Außerdem ist es ganz gut über den gesamten Vorgang einigermaßen Bescheid zu wissen, für den Fall, dass hinterher jemand dumme Fragen stellt. Außerdem muß der Eintrag im Logbuch einigermaßen schlüssig und nachvollziehbar sein.”

Hafenmeister (staunt): “Ein Logbuch? Was ist das?”

Kapitän: “Kaum fragen wir in also, da fängt er zu singen an wie ein Vögelchen: Er wäre Hebräer und würde den Gott anbeten, der Himmel und Erde und Festland gemacht hat. Das war natürlich ein Hammer. Dieser Gott ist die ganz große Nummer. Ich kenne da Geschichten aus Ägypten, wo mein Schwager herkommt…”

Hafenmeister: “Also kein grindiger Regionalgott auf einem langweiligen Felsen mitten im Meer.”

Kapitän: “Sag ich doch. Gegen den hat man keine Chance. Also fragen wir unseren Passagier, was er so angestellt hat, um diesen Gott so auf die Palme zu bringen und was wir tun sollten, um ihn wieder zu beruhigen. Er meinte, wir sollten ihn einfach ins Wasser werfen, damit der Sturm endlich aufhört und die Sache ein Ende hat.”

Hafenmeister: “Ein Freiwilliger sogar, da wird die niemand einen Vorwurf machen. Und schließlich hat es auch geholfen, immerhin stehst du ja hier.”

Kapitän: “So einfach ist die Sache nicht. Schließlich ist er ja vor seinem Gott abgehauen. Wenn wir ihn einfach so ins Meer geworfen hätten hätte das noch größeren Ärger geben können, am Ende hätte sein Gott ihn lebend haben wollen.”

Hafenmeister: “Stimmt auch wieder.”

Kapitän: “Also rudern wir wie die bekloppten, um zurück an Land zu kommen damit wir den Kerl endlich los werden. Aber alles pullen hilft nichts. Der Sturm wird immer schlimmer und kommt, wie soll es anders sein, natürlich von Land her. Da hatten wir keine Chance.”

Hafenmeister: “Das ehrt dich und deine Mannschaft, ihr habt nichts unversucht gelassen.”

Kapitän: “Aber es hat nichts geholfen, also haben wir ihn dann auf seinen eigenen Wunsch endlich ins Meer geschmissen.”

Hafenmeister: “Unter Einhaltung aller Verfahrensregeln, die für diesen Fall vorgesehen sind, selbstverständlich.”

Kapitän: “Selbstverständlich. Gebete, Gelübde, Opfer, Weihrauch, was eben so üblich ist.”

Hafenmeister: “Und dann war alles vorbei?”

Kapitän: “Eben nicht ganz. Immerhin hat der Sturm dann sofort aufgehört.”

Hafenmeister: “Mach es nicht so spannend!”

Kapitän: “Ja, und dann kam ein Riesenvieh von einem Fisch und hat unseren ehemaligen Passagier einfach verschluckt.”

Hafenmeister: “Auch Riesenfische müssen fressen, das ist ganz normal.”

Zweiter Teil: Unter einem vertrockneten Rizinusstrauch

Jona: “So eine Pleite, ich habs ja kommen sehen, von Anfang an. Kannst Du Dir das vorstellen? Der hat es doch völlig übertrieben. Schon der Auftrag: ‘Jona, auf nach Ninive!’ Er weiß doch, wie weit das ist, hats ja schließlich erschaffen. Alles! Wie sollte ich überhaupt nach Ninive kommen? Sechs Wochen mit den Karawanen. Mindestens, selbst wenn alles klappt. Und zu Fuß, alleine? kaum zu schaffen, hinter der erstbesten Ecke wird man ausgeraubt und umgebracht. Kannst Du Dir das vorstellen?”

Wurm (bewegt etwas ratlos die Schwanzspitze hin und her, weil er keine Schultern zum zucken hat.)

Jona: “Da ist es doch kein Wunder, wenn einer mal eine Auszeit braucht. Als approbierter Prophet mit einem ausgezeichneten Ruf und eigener Praxis muß man sich schließlich nicht auf alles einlassen. Aber gute prophetische Aufträge sind ja selten, heutzutage. Immer nur Kleinigkeiten, die noch nicht einmal von einem Schreiber dokumentiert werden. In ein paar Jahren weiß niemand mehr davon. Ja, Sodom und Gomorra, das war noch was. Davon redet man heute immer noch, und man wird noch in Jahrhunderten davon reden. Das war denen dort eine Lehre fürs Leben. Auch allen, die davon gehört haben, und wer hat nicht davon gehört, ist das eine Lehre für alle Zeiten.”

Wurm (sagt wieder nichts, weil er nicht sprechen kann. Irgendwie hat Jona den Eindruck, daß er fragt, ob das mit Sodom und Gomorra geholfen hätte, und was das überhaupt gewesen wäre.)

Jona: “Aber ich? ich soll alleine durch die halbe Welt ziehen, meinen Hals riskieren ohne das zu Hause jemals jemand davon erfährt. Und wer kümmert sich zu Hause um die Arbeit? Das belastet ganz schön. Jemanden finden, der für eine so lange Zeit zuverlässig die Blumen gießt und die Katze füttert ist auch nicht gerade einfach. Die Katze hat bestimmt schon wieder Junge angeschleppt.”

Wurm (sagt wieder nichts)

Jona: “Da ist es doch kein Wunder, daß man einen Burnout bekommt. Mal weg von allem, eine Seereise, Luftveränderung, einen ausgedehnten Urlaub machen. Sich nicht vom Chef auf jede hoffnungslose Mission schicken lassen, die von vornherein zur Erfolglosigkeit verurteilt ist.”

Wurm (sagt natürlich nichts, aber Jona spürt vage dessen Frage, wie Jonas Definition des Begriffs ‘erfolglos’ aussieht.)

Jona (lenkt ab): “Ach, das habe ich Dir schon so oft erzählt. Wie ich ein Schiff gefunden habe, das mich möglichst weit weg bringt, möglichst an den Rand der Welt. Die Geschichte mit dem Sturm, das war alles zu viel. Und erst die Seeleute. Ziemliche Bagaluten. Ich weiß nicht, warum sie mich nicht sofort ins Wasser geworfen haben. Nein, die mussten erst einmal mal diskutieren, woher, wohin, warum. Und das alles bei diesem Sturm, bei dem sowieso keiner sein eigenes Wort verstanden hat.”

Wurm (Sagt aus naheliegenden Gründen immer noch nichts)

Jona: “Und dann die Sache mit dem Fisch. Wenn der mich richtig gefressen hätte, dann wäre wenigstens alles vorbei gewesen. Aber nein: Tagelang schaukelt der mich durchs Meer. Das war ein Gestank in diesem Vieh, sage ich dir. Und am Ende spuckt er mich irgendwo an den Strand. Ich habe vielleicht ausgesehen. Tagelang habe ich bitten und betteln müssen, damit ER endlich dem dämlichen Vieh sagt, daß es mich ausspucken soll.”

Wurm (Scheint die Nase zu rümpfen)

Jona. “Und dann sitze ich da, am Strand, versuche mich und meine Plünnen irgendwie sauber und den Gestank aus der Nase zu bekommen, da geht das schon wieder los: ‘Jona, auf nach Ninive!’ Das hätte gut und gerne auch noch etwas Zeit gehabt. Aber, was solls, ich ziehe also los, hatte ja doch alles keinen Zweck. Weisst Du, wie weit Ninive vom Meer entfernt ist? Wochenlang hinter Kamelen herzulatschen ist auch keine Freude. Außerdem ist Kameldung mit vergammelten Fisch auch keine Duftmischung mit der man sich unterwegs viele Freunde macht.”

Wurm: (Blickt nun doch etwas mitleidig auf Jona)

Und dann am Ende diese riesige Stadt. Unglaublich viele Leute, Viehzeug, geschacher und geschnatter, Straßen, Gassen und Plätze, da soll sich einer zurechtfinden in diesem Gewirr. Den ganzen Tag bin ich durch die Straßen geirrt. Durch interessante Stadtviertel bin ich da gekommen, da wundert es einen nicht, warum ER mal richtig dreinschlagen will. Kann ich gut verstehen. Also: ich mache mich an die Arbeit, stelle mich an die nächste Straßenecke, verkünde lautstark – gelernt ist gelernt – meine Botschaft. Natürlich lachen die Meisten, aber das bin ich schließlich gewohnt. Dann weiter an die Nächste Ecke und wieder verkündet. Straßenecke für Straßenecke, ganz systematisch, wie im Lehrbuch. Wie nicht anders zu erwarten rennen die Straßenkinder hinter mir her, bewerfen mich mit allem möglichen und singen Spottlieder. Aber ich habe weiter gemacht, Ecke für Ecke, Viertel für Viertel. So allmählich mußte ich dann nicht mehr hinter den Leuten her rennen, sondern sie kamen ganz von selber. Es scheint so, als hätte ich doch etwas Eindruck gemacht.”

Wurm: (Ist im Rahmen seiner Möglichkeiten beeindruckt)

Jona: “Aber dann: der König, irgendwer muß ihm Bescheid gesagt haben, daß ich in der Stadt bin und Gottes Urteil verkünde. So ein König kommt natürlich nicht einfach an der Straßenecke vorbei, an der ich gerade stehe und hört mir zu. Hat mich gar nicht selber  gehört, aber gleich völlig übertrieben. Verkündet ein großes Fasten und Buße und so. Fängt an, eine Untaten zu büßen stülpt sich einen Sack über und setzt sich in die Asche. Aber natürlich denkt er mit keinem Gedanken an mich. Wie stehe ich da? Arbeitslos! Alle fangen an zu büßen und zu fasten. Die Asche wird knapp, die Schaufenster hängen voll mit der allerneuesten Büßermode, aber gefastet haben sie bestimmt nur zwischen den Mahlzeiten. Dabei bin ich ja noch nicht einmal bis in die Stadtmitte gekommen. Erst einen Tag lang bin ich in die Stadt reinmarschiert und schon stiehlt mir der König die Schau. Typisch König. Keiner kümmert sich mehr um mich, keiner bedankt sich für meine Arbeit. Gehört sich das?”

Wurm: (Hört gut zu, verhält sich aber weiter etwas indifferent)

Jona (redet sich in Rage) “Und dann ER! Das habe ich mir doch gleich gedacht: Sagt die ganze Veranstaltung ab! Kein Kataklysmus, kein Erdbeben. Nichts! Weder Feuer vom Himmel noch ein Schlund der sich auftut, um die Stadt zu verschlingen. Kein Vulkan, keine Flut, nicht einmal ein Gewitter, nicht mal ein ganz kleines! Die ganze Arbeit für nichts und wieder nichts! Die Seekrankheit auf dem lausigen Kahn: Umsonst! Die dämlichen Diskussionen mit den Seeleuten: Umsonst! Und erst der blöde Fisch mit seinem Gestank: Umsonst! Das gelatsche nach Ninive: Völlig umsonst! Vom Anfang bis zum Ende alles vergebens.” (Seufzt)

Wurm: (Sucht sich ein Plätzchen mit mehr Schatten unter einer freiliegenden vertrockneten Wurzel des Strauchs unter dem beide sitzen. Nimmt die Wurzel in Augenschein, ob nicht doch noch irgend ein saftiges Stückchen zum Fressen daran wäre.)

Jona: “Das habe ich IHM dann natürlich sofort gesagt. Richtig aufgeregt habe ich mich. Immer diese Langmut, immer dieses Erbarmen. Nichts als Gnade und Barmherzigkeit! Das kann doch auf die Dauer kein Prophet aushalten. ‘Kein Wunder, daß die Leute Dich vergessen, sowie sie mal drei Tage lang nichts von Dir hören.’ habe ich gesagt. ‘Und dann muß ich wieder ran, irgendwo hinziehen und den Leuten etwas prophezeien.’ Aber das eine Mal hab ich gedacht, er versteht mich, lobt mich für meinen rechtschaffenen Zorn gegen die Stadt.”

Wurm: (Hört das nicht zum ersten Mal und versucht sich tiefer im Schatten zu verkriechen)

Jona: “Für den Fall, daß ER doch noch etwas unternimmt marschiere ich hierher, so weit nach Osten, daß ich einen guten Überblick über die ganze Stadt habe und setze mich hin. Wenn der Zorn Gottes dann vielleicht doch noch über die Stadt gekommen wäre, dann bestimmt gegen Morgen. Von hier hätte mich die aufgehende Sonne nicht geblendet, während die Stadt im Feuer untergeht. Ein prima Logenplatz, mit Baumaterial für eine kleine Hütte um darunter im Schatten zu sitzen. Ein echter Glücksfall.”

Wurm: (Kann den Wunsch nach Schatten gut nachvollziehen)

Jona: “Dann noch die Sache mit dem Strauch. So schön kühl und schattig war es darunter. Außerdem: Endlich ein Wunder, wenn auch ein ganz kleines. Aber praktisch und gemütlich. So ein Wunder darf er gerne öfter tun. Der Strauch ist einfach über Nacht gewachsen. Blitzschnell, am Morgen war er da. Wer hätte das gedacht. Das war ein angenehmer Tag, nach den ganzen Anstrengungen. Ich konnte schön entspannt im Schatten liegen, hin und wieder einen Blick auf die Stadt werfen, ob sich dort etwas tut.”

Wurm: (Ahnt, daß die Sprache gleich auf ihn kommt und zieht sich deshalb noch etwas weiter unter die Wurzel zurück.)

Jona: “Aber dann… Am nächsten Morgen wache ich auf und der schöne Strauch ist nur noch ein trauriges Büschel im Wüstensand. Keine Blätter, kein Schatten, einfach nur noch ein paar trockene Zweige, die für keinen Besen mehr taugen. Und die Hütte ist natürlich auch weg, die war als Feuerholz in der Nacht besser geeignet als zum Schatten spenden bei Tag. Und dann kommt auch noch diese Hitze und der heiße Wind. (Blickt den Wurm böse an, macht dabei aber einen so kraftlosen Eindruck, daß dieser sich nicht weiter zurückzieht.)

Alles hinschmeißen möchte man, da fehlt einem schon fast die Kraft, sich aufzuregen. Das habe ich ihm dann auch gesagt. Erst lässt ER mir so ein schönen Rizinusstrauch wachsen und dann schickt ER dich (Jona blickt müde auf den Wurm) und du machst alles Kaputt. Hättest du nicht etwas anderes fressen können? Verrückt werden könnte man darüber. Und dann kommt ER und fragt mich, ob ich schon wieder rechtschaffen zornig wäre, dieses Mal über das Gebüsch, und ob mein Gebüsch vielleicht mehr Wert wäre als eine ganze Stadt mit abertausenden Menschen, Viehzeug und allem.”

Wurm (Hat kein schlechtes Gewissen wegen des Buschs, hätte ihn aber trotzdem gerne als Schattenspender und Schutz gegen den heißen Ostwind zurück.)

Jona: “So betrachtet kann ich IHN natürlich auch ein bisschen verstehen, was ist schon ein Gebüsch gegen eine Stadt. Genaugenommen sind ja beide seins. Die Stadt und das Gebüsch. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich auch lieber um einen vertrockneten Busch trauern, als um eine niedergebrannte Stadt mit abertausenden Menschen. Irgendwie liegen einem die Leute ja doch am Herzen, auch wenn es manchmal schwer fällt.” (Seufzt)

Wurm: (entspannt sich)

Jona: “Und es sind ja auch nicht alle schlecht. (Jona blickt in die Richtung, in der sich in einiger Entfernung ein Brunnen befindet.) Sieh mal, wie die Kinder am Brunnen spielen. Und wie die Lämmer beim trinken mit ihren Schwänzen wackeln. Die wären jetzt auch nicht mehr, die Lämmer und die Schwänze.”

Wurm: (Sieht erleichtert, wie Jona sich entspannt. Irgendwie ist es plötzlich nicht mehr so heiß und weniger windig.)

Jona: “Ach, was solls. Irgendwie habe ich ja doch Erfolg gehabt mit meinem Auftrag. Selbst wenn sich in sechs Wochen niemand mehr in Ninive an mich erinnert. Wenn ich nicht so gut prophezeit hätte, wäre jetzt schon niemand mehr da, der sich an mich erinnern würde. Ob das lange gut geht mit Ninive, oder machen sie schon bald wieder weiter wie vorher? Wer weiß das schon”

Wurm (Weiß, wer das weiß, aber es kümmert ihn nicht.)

Jona: “Ich gehe nach Hause, dort werde ich gebraucht. Prophezeiungen und so. Kommst Du mit? Wir könnten uns dann auf dem Weg noch etwas unterhalten. Es ist ein ganz schönes Stück zu laufen, von hier. Aber es ist schön dort, nette Nachbarn habe ich auch. Ich kann dir die Katze zeigen, mit ihren Jungen. Kleine Fellknäuel sind das, richtig lustig. Die Blumen sind bestimmt alle vertrocknet, da müssen dann neue her. Und dann sollte ich mal richtig Urlaub machen. Ganz offiziell, mit einem ordentlichen Urlaubsantrag vorher. Du kommst mit und wir fahren dann tatsächlich nach Tarschisch, bevor die Vandalen dort eines Tages einfallen. Das wird bestimmt lustig.”

Wurm: (Macht sich Reisefertig)

Letztes Bild:

Jona und der Wurm wandern durch die Wüste in einen prächtigen Sonnenuntergang hinein.

Illustrationen: Sabine Winterwerber

Ulf Meinhardt, im Januar 2018

Von der heiligen Pflicht eines Eisdielenbesuchs
Oder: Eine Lektion in Demut

2018

Von den Freuden der Pflicht wollte ich schreiben, eine Überlegung, ob der Besuch einer Eisdiele nicht nur ein Vergnügen oder eine Notwendigkeit sein kann, sondern sogar eine heilige Pflicht. Wodurch aber wird ein Schokoladeneisbecher – nach Geschmack auch jede andere Variante eines Eisbechers – nicht nur ein Genuss, eine wetterbedingte Notwendigkeit, sondern sogar eine heilige Pflicht?

Das ist nicht schwer zu verstehen: Man stelle sich vor, ein Freund, der nach einer schweren Operation gerade so eben wieder in der Lage ist, aus dem Haus zu gehen, verspürt das dringende Bedürfnis nach einem bei sonnigwarmen Wetter unter schattenspendenden Linden genossenem Eisbecher und benötigt dazu dringend eine Begleitung. Was liegt also näher, als diesem Freund voller Freude beizustehen und in die Eisdiele zu begleiten? Zum einen natürlich wegen des leckeren Eisbechers als solchem, jedoch hauptsächlich natürlich wegen der heiligen Pflicht, einem kranken Freund Unterstützung zu gewähren und eine Freude zu machen. Wenn dann jedoch, von der Operation und der sonstigen Behandlung noch reichlich angeschlagen, der Freund mit seinem Eisbecher im Schatten sitzt und die Versorgung eines kranken Nachbarn organisiert, an der er sich dann auch noch selber beteiligt, dann ist der gemeinsame Besuch der Eisdiele immer noch eine heilige Pflicht, aber genau so eine Lektion in Demut.

Mission I
19. März 2016
Die Gebildeten ziehen sich aus dem Internet zurück. So steht es heute in der Zeitung. Was für eine Nachricht. Aber wir wissen es doch alle schon längst: Das Internet ist ein ‚No Go Area‘ für Menschen mit Verstand. Dazu ist es seit Anbeginn geworden. Und die Rentner unter uns, die sich noch an den deutschen Vorläuferdienst ‚BTX‘ erinnern können, werden es bestätigen: Nichts als Kommerz, nur damals noch, aber ausschließlich wegen der fehlenden technischen Möglichkeiten, ohne lustige Katzenvideos. Etwas E-Mail-Ähnliches gab es auch schon, doch um auf diesem Weg Nachrichten auszutauschen, mussten sowohl Sender als auch Empfänger im Besitz einer sündhaft teuren BTX-Einrichtung sein, oder wenigstens jemanden damit kennen. Eine E-Mail kostete damals 30 Pfennige. Das Schreiben von Postkarten war einfacher und schneller.

Und seitdem ist es, wie wir alle wissen, immer nur steil bergab gegangen. Außerdem, seit der Einführung von BTX, so seit Ende der 1970er Jahre, geschieht auch noch das: Die Kirchen werden leerer und leerer. ‚Glaubensverdunstung‘ nennt das ein Leserbriefschreiber der Kirchenzeitung. Doch wohin ist der Glaube verdunstet, etwa ins Internet? Und dann gibt es wieder mehr und mehr Mitchristen, die das missionarische betonen. Das ist wichtig: wie sollen denn die Kirchen wieder voller werden, wenn nicht durch Mission? Die Mission war uns Christen schon immer wichtig, von Anfang an. Die Apostelgeschichte ist voll davon: Hoffnungsvolle Anfänge, bittere Rückschläge, Streitereien, Prügel und Gefängnis für die Missionare. Und das alles zu Fuß, auf Um- und Irrwegen. Und wie haben die Apostel missioniert? Etwa, indem sie umsonst Bibeln verteilt und den Katechismus mit Lautsprechern in die staunende Menge posaunt haben? Eher nicht. Sie haben mit ihrem Leben missioniert. Sie haben von dem berichtet, was sie erlebt und erfahren hatten, sie haben versucht, ihren neuen Gemeinden das vorzuleben, was sie ihnen vermitteln wollten. Und sie sind nicht dahin gegangen, wo es einfach und bequem war, nicht nur an die Orte, die einfach zu erreichen waren. Sie sind dorthin gegangen, wo es keine gut gebahnten Wege gab, an die Orte, wo es weh getan hat. Weh von den Steinen auf dem Weg und in den Sandalen, von den Dornen, durch die sie sich den Weg bahnen mussten und auch von den Knüppeln derer, die sie nicht willkommen heißen wollten.

Und genau dorthin muss die Mission immer gehen: In die Ecken der Welt, in denen es weh tut. Dahin, wo kein gebildeter Mensch mehr hin will. An die Orte, an denen es für ein vernünftiges Wort Hasstiraden und Morddrohungen gibt: Also an die Orte, an denen wir gebraucht werden.

Oder wir stellen uns in die Fußgängerzone und verteilen umsonst Bibeln. Dann können wir auch unsere tolle Lautsprecheranlage aufstellen, und den Katechismus über die staunenden Passanten ausposaunen.

Heilige II: Berufungen

Gesund und munter, wohlhabend und mit den besten Aussichten auf eine einträgliche Karriere macht sich der zukünftige Heilige Norbert von X. am Freitag, den 28. Mai 1115, nach einer nicht besonders anstrengenden Woche in seiner Stellung als Chorherr im Stift St. Victor, auf den Weg ins Wochenende, gerät dabei in ein Gewitter und fällt vom Pferd, als ein Blitz vor ihm einschlägt. Fortan wird er fromm, ein Wanderprediger, gründet einen Chorherrenorden, tut viele gute Werke und reformiert die Kirche.
So kann sie sich anhören, die Geschichte einer Berufung und deren Folgen. Schön und gut, aber wirklich glaubhaft? Lieber Leser, Sie und ich dürfen niemals vergessen, dass wir nicht dabei waren, und über das Ziel der Wochenendreise müssen wir uns keine Gedanken machen.
Es lohnt sich eher, darüber nachzudenken, ob ein Blitzschlag alleine ausgereicht hat, Norbert, Sohn des Heribert von Gennep, zum Heiligen Norbert zu machen, oder ob vielleicht etwas mehr dazu gehört, als mit Spektakel vom Pferd zu fallen. Immerhin verfügte Norbert nicht nur über hinreichenden Wohlstand und religiöse und politische Bildung, sondern musste sich darüber hinaus bereits einiges Ansehen erworben haben. Denn im Gefolge des Erzbischofs von Köln war er mit dem Salierkönig Heinrich dem fünften nach Rom gezogen, der sich in den Kopf gesetzt hatte, als Kaiser Karl der fünfte von dort zurückzukehren. Die Mittel, mit denen er seine Krönung zum Kaiser sicherzustellen wusste, waren recht nachdrücklicher und unsportlicher Natur, und so müssen wir davon ausgehen, dass der zukünftige Heilige Norbert kein Dummkopf war,  sondern gute Gründe hatte, als er das Angebot seines frisch gebackenen Kaisers ausschlug, Bischof in Cambrais zu werden. Was für eine Kariere wäre das gewesen: Ein Sprung vom wohlhabenden und angesehenen Chorherren zum Herrscher über große und reiche Ländereien. Doch, wie gesagt, das Angebot seines Kaisers lehnte er ab. Dabei stellt sich nebenbei die Frage, was ein weltlicher Herrscher, Kaiser oder nicht, damit zu tun hat, Bischofssitze zu vergeben. Diese Frage war schon zu Norberts Zeiten nicht neu. König Heinrich IV. hatte 1076 in dieser Angelegenheit schon eine längere Winterreise  nach Canossa  unternehmen müssen. Ein paar Jahre später — genau gesagt im Jahre 1122 — gab es dann einen Kompromiss Zwischen Reich und Kirche.
Was will uns das alles sagen? Als Norbert auf dem Weg in seinen wohlverdienten Wochenendurlaub vom Pferd fiel, wird der Blitz ihm wahrscheinlich nicht die Erkenntnis über den Zustand der Welt gebracht haben. Auch was er der Welt geben könnte, um deren Zustand zu bessern, wusste er bestimmt schon vor dem fraglichen Termin. Die Erkenntnis Norberts über den Zustand seiner Zeit kam nicht vom Blitz und auch nicht wie ein Blitz, und die Berufung bestimmt auch nicht. Alles muss schon vorher da gewesen sein. Der Blitz hat nur einen Startpunkt gesetzt. Mit dem Schreck darüber hat sich das, was längst in Einzelteilen existiert hat, zusammengesetzt und etwas Neues ausgelöst.
Was bedeutet das nun für uns? Für mich bedeutet es, dass es keinen Zweck hat, ein Gewitter abzuwarten, sich an eine exponierte Stelle zu stellen und abzuwarten, dass einen der Blitz trifft, um hinterher als Heiliger loszuziehen und die Welt zu retten. Aber hin und wieder braucht man einen Tritt, um aus dem, was man weiß und kann, etwas Neues entstehen zu lassen.

PS.:
20356 1/2 Wochen später ist Martin Luther in den Semesterferien auf dem Weg nach Hause. Auch bei ihm schlägt der Blitz ein und vor lauter Schreck ruft er die heilige Anna an: „Ach Du, heilige Anna, ich möchte Mönch werden.“ Auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht – der Unterschied zum Heiligen Norbert könnte größer nicht sein: Der eine geht, nachdem er knapp dem Tod entronnen ist, hinaus in die Welt und lässt sich auf ein gefährliches Leben voller Arbeit, Entbehrungen und Verdruss ein, der andere möchte sich in ein Kloster verziehen. Aber dieser an sich gute Vorsatz Luthers hält gerade einmal zwei Wochen: anstatt ein Mönch zu werden, tritt er in das schwarze Kloster der Augustiner-Eremiten – eines Bettelordens – in Erfurt ein.

Heilige I: Nichts als Ärger und Verdruss

Auf dem Weg von Sayn zur ehemaligen Prämonstratenserabtei Arnstein bei Obernhof an der Lahn fragte Sr. Martina sich und uns, warum wir den einen oder anderen Heiligen ver­ehren, aber die Radikalität, die viele dieser Heiligen in ihrem Leben gelebt haben, in unserem Leben nicht zu­lassen. Wer hat sich diese Frage schon einmal gestellt? Hoffentlich jeder von uns. Aber wie können wir mit dieser Frage umgehen?

Im günstigsten Fall ist es so, daß diese Radikalität in unserem Leben nicht gefordert wird. Aber mit den günstigsten Fällen ist das so eine Sache: sie treten leider nur sehr selten ein. Die Welt ist voller Fragen und voller Elend. Wie sollen wir darauf reagieren? Wie wissen wir, ob wir das richtige tun? Wie können wir wissen, ob wir das richtige wollen? Und, wenn wir wis­sen – oder annehmen – dass wir das richtige wollen, wie können wir sicher sein, dass wir dann auch das richtige tun? Kann es sein, dass nichts tun manchmal besser ist als alle gut gemeinte Actio? Ist es besser, voller Empörung laut schreiend auf die Straße zu rennen oder still Hilfe zu leisten? Gibt es jemanden, der von Amts wegen zuständig ist und nur aktiviert werden muss? Soll jedes Problem in der Tiefe analysiert wer­den? Verursacht eine gute Lösung an einer Stelle vielleicht neues Unrecht an einer anderen Stelle? Fragen über Fragen, die sich jeden Tag neu stellen.

Hatten es unsere Heiligen vielleicht leichter? War ihre Welt überschaubarer? Konnten sie sich in ihrer Nachfolge Christi in blindem Gottvertrauen darauf verlassen, den richtigen Weg zu gehen, das richtige zu tun? Natürlich nicht. Warum nicht? Weil sie in ihrem Erdenleben wohl in den seltensten Fällen eine Idee davon gehabt haben, dass sie eines Tages als Heilige betrachtet würden, oder dass das, was sie ta­ten, für ihre Nachwelt irgend eine Bedeutung haben könnte. Sie mussten ihr Tun, wie jeder andere Mensch auch, vor sich und anderen rechtfertigen.

Eine repräsentative Umfrage unter unseren Heiligen ist heute kaum möglich, aber ich vermu­te, dass das Ergebnis etwa so aussehen würde:

  • Etwa 100% aller Heiligen beklagen sich darüber, dass ihr Leben nichts als Ärger und Ver­druss mit sich gebracht hat. Sie beklagen Auseinandersetzungen mit ihren Eltern, die nun gar nicht verstehen wollten, dass der Nachwuchs die gewünschte Berufslaufbahn nicht eingeschlagen hat, den sorgfältig ausgesuchten Ehepartner auf keinem Fall heiraten wollte oder das Familienvermögen zwie­lichtigen Hungerleidern in den Rachen geschoben hat. An dieser Stelle könnte natürlich noch mehr stehen, aber auch fast ohne Phantasie findet sich hier noch vieles, auf das jeder selber kommen kann.

  • Ebenso stimmt es so um die 100% aller Heiligen äußerst verdrießlich, dass ihr Engagement weder von ihren Kirchenoberen oder anderen Mitmenschen zu ihren Lebzeiten in irgend einer Form gewür­digt worden ist. Ganz im Gegenteil. Nur um ein paar kurze Beispiele zu nennen: Kaum macht sich Theresa von Avila mit einigen Schwestern selbstständig, will in der Nachfolge Christi fromm von eigener Hände Arbeit leben, kommt auch schon die Polizei und will diesem un­würdigen Spuk mit Gewalt ein Ende machen. Thomas von Aquin kann ein Lied davon sin­gen, was die Familie so anstellt, wenn man auch nur in den den falschen Orden eintritt und auch Franz von Assisi hat, was Ärger mit Familie und Kirchenoberen angeht, reichlich aus dem vollen geschöpft. Diese Reihe kann beliebig bis in unsere Tage fortgesetzt werden. Noch ein fast aktuelles Beispiel gefällig? Auch Mary MacKillop hatte es nicht leicht. Ihre Idee, Bildung unter die Kinder das armen australischen Landbevölkerung zu bringen, stieß bei ihren Mitmenschen offensichtlich mehr als einmal auf wenig Begeisterung, genau so wenig Jahrhunderte vorher die Ideen und Aktionen von Mary Ward.

  • Ziemlich viele Heilige hatten, zumindest Zeitweise, auch ein Problem mit Gott selber. Erst füllt er ihre Herzen mit dem brennenden Wunsch, seinem Sohn nachzufolgen, er schenkt ih­nen die Gaben, die sie für ihre Aufgabe brauchen und schickt ihnen die Menschen, die mit ihnen gehen. Und dann lässt er sich kaum noch blicken und sie müssen selber sehen, wie sie zurande kommen. Zusammen mit den oben genannten Punkten kann so etwas ganz schön belastend sein.

  • Auch Mystik und Visionen sind kein Zuckerschlecken, erst recht wenn andere Menschen davon Wind bekommen, die dann auch ein Stück vom Kuchen der Nähe Gottes abhaben wollen, ohne selber allzu sehr darunter leiden zu müssen. Diese Heiligen haben wirklich Pech: Sie müssen sich ständig vor der zudringlichen spirituellen Laufkundschaft verstecken, und kommen kaum noch zu dem, was sie eigentlich tun wollten. Die Geschichte ist voller Einsiedler, um die herum sich eine mittlere spirituelle Vermarktungsindustrie angesiedelt hat.

  • Von den Unannehmlichkeiten, die Märtyrer auszustehen haben, muss hier nicht erst geredet werden, sie sollten allgemein bekannt sein.

Das alles wissen wir, oder wir ahnen es zumindest. Und trotzdem ist immer der Wunsch in uns, sich solchen Herausforderungen zu stellen. Vielleicht sehnen wir uns auch ein bisschen danach, während der Verstand dann doch immer wieder die Oberhand gewinnt, indem er auf die Bequem­lichkeit geheizter Wohnungen in Gegenden mit erträglichen Umgebungsbedingun­gen hinweist und uns die Vorzüge geregelter Arbeitszeiten vor Augen führt. Ist vielleicht der Verstand der kleine Bruder der Bequemlichkeit?

Ich will nicht, dass sie alle zur Hölle fahren!

Herr T.  ist deutlich: „Ich wünsche ihnen die irdische Höchststrafe. Und dass sie anschließend zur Hölle fahren“, schreibt er auf Facebook. Das äußert er zu den letzten Anschlägen in Kuwait, Tunesien und Frankreich. Verständlich, oder? Wieder einmal sind Menschen gestorben, weil irgend jemand Sprengstoff und/oder Sturmgewehren auf sie losgegangen ist. Die Begründung dafür ist wieder einmal ein heiliger Krieg, und dem heiligen Krieg ist es, entgegen der eigenen Aussage egal, wer ihn gegen wen und warum führt. Hauptsache er wird geführt. Hauptsache, es finden sich frustrierte, perspektivlose – junge – Menschen, die die Welt retten wollen und sich dafür Sprengstoffgürtel umschnallen lassen. Menschen, die es gerne glauben wenn man ihnen erzählt, dass sie für das Richtige kämpfen und mit einem billigen Sturmgewehr unbesiegbar sind.

Wir alle glauben so gerne, dass wir im Recht sind. Umso lieber, wenn wir in unseren Meinungen bestätigt werden. Wenn wir dann noch schießen dürfen und Helden werden …

Doch wer profitiert? Die Welt ist es nicht, die Gerechtigkeit, die so gerne von allen Beteiligten bemüht wird, bestimmt auch nicht. Kaum die Menschen vor Ort, die wechselweise von den unterschiedlichen heiligen Kriegern von den jeweils anderen heiligen Kriegern befreit werden und diese dann dafür mit den kümmerlichen Resten ihres Besitzes bezahlen müssen, wenn sie Glück haben. Denn auch für die heiligsten aller Krieger gilt: Bargeld ist nicht alles.

Ist es da ein Wunder, wenn jemand die Mörder zur Hölle wünscht? Kaum. Aber Vorsicht: Wenn es eine Hölle gibt, und Herr T. scheint daran zu glauben, dann muss er sich mit dem Gedanken anfreunden, dass es auch einen Teufel gibt. Und was wird Teufel wohl wollen? Ich nehme an, er will auch, dass sie alle zur Hölle fahren. Damit sie für immer zu ihm gehören. Wer also – wen auch immer – zur Hölle wünscht, muss sich also fragen, wessen Geschäft er wohl erledigt.

Deshalb gilt für mich: Ich will NICHT, dass sie alle zur Hölle fahren, ich will, dass sie mit dem Morden aufhören! Natürlich darf man sie nicht mit ihren Taten davonkommen lassen. Aber nach menschlichem Recht und Gesetz. Doch nicht nur die traurigen Gestalten, die ihre Mitmenschen aus Dummheit umbringen, sondern auch die, die sie dazu anstiften und, wenn es Gerechtigkeit in der Welt gibt, erst recht diejenigen, die am Ende ohne blutige Hände dastehen und sich ihrer Einnahmen aus den heiligen Kriegen freuen.

Der Müll

„Die lassen alles aber auch einfach so aus der Hand fallen!“, ereifert sich jemand. Seinen Müll nicht sorgfältig nach den Regeln der Abfallwirtschaft zu entsorgen gilt als unschicklich. Müll gehört in die Mülltonne. Und zwar in die richtige. Papier zu Papier, grüner Punkt zu grünem Punkt und Staub zu Staub. Ärgerlich ist es, wenn unterwegs kein geeigneter Abfallbehälter zur Verfügung steht, dann hilft nichts: Der Müll wird mit nach Hause genommen.
Und so wundert sich der eine oder andere über die bösen Blicke, die man ernten kann, wenn man, vielleicht bei einem Freiluftkonzert im Ausland, die Rückstände seines Picknicks, getrennt, wie es die heimatliche Vorschrift vorschreibt, in die extra dafür beschafften verschiedenfarbigen Mülltüten verbringt, um sie zum Auto zu schleppen. Warum nur? Warum erntet man böse Blicke von landschaftverschandelnden Umweltverschmutzern, die ihren Müll einfach liegen gelassen haben, für völlig normales und anständiges Verhalten? Was ist falsch daran, seinen Müll sachgerecht zu entsorgen? Ist etwa das Böse etwa so tief in diese vorhin noch so nett erscheinenden Menschen gefahren, dass sie die Welt mit grimmigem Vorsatz in ihrem Müll ersticken wollen?
Überhaupt nichts ist falsch daran, sachgerecht mit seinem Müll umzugehen. Doch was ist (sach)gerecht?
Fragen sie die Menschen, die dafür bezahlt werden, diesen Müll zu sammeln und abzutransportieren. Sie haben so die Gelegenheit, ihren – zugegebenermaßen meist recht bescheidenen – Lebensunterhalt zu verdienen. Und sie hatten die Gelegenheit, ein Konzert zu hören. Zu weit von der Bühne entfernt um die Bühnenshow zu sehen, aber nahe genug, um sich an der Musik zu freuen.

Die Wochentagsmesse

Ach wie kann das schön sein. Eine feierliche Messe am Sonntag, an einem Hochfest. Die Kirchenbänke sind dicht gefüllt, selbst die Stühle ganz hinten sind alle besetzt. Ein großer Einzug, mit allem, was die Gemeinde – oder der Pfarrverband – zu bieten hat: Priester, Kapläne, Diakone, Messdiener und Liturgiemädchen, Lektoren, Kollektoren, Kommunionhelfer… Die Orgel spielt, der Chor singt, die Gemeinde singt, und die Predigt ist nicht zu lang. Kerzen, Weihrauch. Wie früher, sagt Oma Krause und wischt sich verstohlen eine Träne der Rührung aus dem Augenwinkel.

Aber, was hat diese ganze Pracht gegen die Wochentagsmesse am Dienstag- oder Donnerstagabend zu bieten? Wenn die übliche Freiwillige noch schnell nach der Arbeit alles Nötige vorbereitet hat, und sich im Kirchenschiff oder der Kapelle die Gottesdienstbesucher einfinden. Wie viele sind es wohl? Die beiden alten Frauen, die sowieso immer kommen, eine philippinische Putzfrau aus der Nachbarschaft, der eine oder andere, der auch nicht den Eindruck besonderen Reichtums hinterlässt, ein oder zwei Lehrer, die den Nachmittagsunterricht gerade hinter sich gebracht haben, ein Pärchen, das so aussieht, als müsste es sowieso alle Wege gemeinsam machen, da sich irgendwelche der zahlreich an ihrem Körper angebrachte Metallteile unlösbar ineinander verhakt haben, etliche Menschen, denen man ansieht, das sie weder alt noch arm, weder einsam noch traurig sind. Wer liest die Lesung? Diese Frage wird noch schnell geklärt, während der Priester noch im Stau steht. Predigen muss er an einem Wochentag nicht, vielleicht tut er es trotzdem, wenn er meint, dass etwas zu sagen ist. Vorbereitet hat er sich immer, man merkt es an der Begrüßung. Je nach Neigung werden Kyrie und Gloria gesungen oder auch nicht, doch zu einem gesungenen Halleluja und Sanctus reicht es immer.

Nach dem Gottesdienst grüßt man sich, vielleicht spricht man noch ein paar Worte mit einem Bekannten und geht seiner Wege. Und am Donnerstag Nachmittag trifft man sich wieder zum Gottesdienst. Es sind nicht immer dieselben, die kommen, aber es ist noch nie vorgekommen, dass niemand da war. Ob an einem trüben Novembernachmittag oder an einem Sommertag. Das Wort Gottes wird mitten in der Woche gehört. Mitten in der Woche treffen sich Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, um gemeinsam zu beten und Gottesdienst zu feiern. Ganz normal, ohne Aufsehen. Und ohne Orgel.

10. November 2012

Es muss ein Stuhl sein. Pastor K. besteht darauf. Unbedingt. Ein leerer Stuhl, an der Krippe. Ein Stuhl an der Krippe, in der das Jesuskind liegt. Egal, wie hoch der Aufwand und die Kosten dafür sind, so muss es in den Gemeindebrief. Pastor K. hat sogar selber einen Stuhl dafür fotografiert. Mehrfach. Auf der Straße, von vorne, von oben und sogar von unten wurde der Stuhl, in einer Astgabel auf einem Baum drapiert, aufgenommen. Und so macht man sich an die Arbeit. Das Foto von der Krippe wird neu aufbereitet, ein neuer Ausschnitt festgelegt, der Stuhl freigestellt und einmontiert.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Alle sind da: Der Stuhl, Maria und Joseph, Ochs und Esel, ein Engel, die drei heilige Könige, ein Dudelsack spielender Hirte, Schafe, Stroh, und natürlich die Krippe mit dem Jesuskind.
Die Überlegung hinter dem Stuhl scheint die zu sein: Welcher ist Dein Platz an der Krippe? Alle um die Krippe herum haben ihren Platz: Einer hatte den Auftrag, den Schäfern Bescheid zu sagen: Der Engel. Die Könige sind einem Stern gefolgt, Ochs und Esel waren eigentlich schon immer in dem Stall, schließlich wohnen sie dort. Maria und Joseph haben natürlich ihren Platz direkt an der Krippe. Maria, die Unverheiratete, die das Kind weit von zu Hause weg bekommen hat. Ihr Glück. Ob im Dorf vor 50 Jahren in Deutschland oder in einem Dorf vor 2000 Jahren in Palästina: Das Leben hätte ihr kaum noch etwas erfreuliches zu bieten gehabt, wenn die Verwandtschaft gemerkt hätte, was los ist. Und erst der gehörnte Bräutigam. Maria trotzdem zu heiraten wäre ihm wohl auch schlecht bekommen. Ganz gut also, dass die beiden auf ihrem Weg gerade weit weg von zu Hause sind, auch wenn es als Unterkunft und Kreißsaal nur zu einem Stall reicht. Das sind schon zwei: Maria ist eher kommunikativ, („Meine Seele preist die größe des Herrn…“) und Joseph schweigsam zu nennen, wäre eine Untertreibung. Er sagt nämlich kein Wort. Nicht ein einziges. Nicht bei Lukas, nicht bei Matthäus, nicht bei Marcus und nicht bei Johannes. Aber Trotzdem hat er natürlich etwas gesagt: Er hat auf seine schweigsame Art genau dasselbe wie Maria gesagt. Und beide haben „Ja“ gesagt, zu dieser ungeheuren Zumutung, vor die sie von Gott gestellt worden sind. Noch einmal im Detail: Die Mutter ist verlobt. Ausgehend von einer Kultur, in der die Mädchen mit 14 verheiratet werden, kann man sich das Eine oder Andere ausrechnen. Ihr Bräutigam kann durchaus etwas älter gewesen sein, doch selbst bei vorhandenem Bartwuchs: die Zeit, sich einen prächtigen Vollbart zuzulegen, wie in seine Figur an der Krippe hat, wird er wohl noch noch nicht gehabt haben. Er ist zwar der Verlobte, aber er ist nicht der Vater. Und erst das Kind: Wider die Natur wie wir die Natur verstehen, oder, wie wir es der Hymnus „Alma redemtoris Mater“ singen: „Natura mirante – Der Natur zum Staunen.“ Die Kommentare der Eltern, Tanten und Verwandten sind abzusehen: „Eine tolle heilige Familie haben wir da…“ Nur Teenager können so etwas.
Und welches ist nun unser Platz an der Krippe? Wie gut, daß uns Pastor K. schon einen Stuhl hingestellt hat, damit wir wissen, wohin wir uns setzen sollen. Einen Stuhl, damit wir es bequem haben, während die anderen knien.

6. November 2012

nach der Messe bei den englischen Fräulein(s) habe ich noch schnell einen Blick auf den neuen Konsumtempel in unserem Viertel geworfen. Er liegt gleich hinter dem Griechischen Restaurant noch vor dem Bahndamm und ist wirklich nagelneu, er wurde erst in der letzten Woche eröffnet. Vor dem Portal traf ich meine Mutter, die eigentlich gerade wieder aufs Fahrrad steigen wollte, es sich dann aber nicht nehmen ließ, mir noch eine Führung durch das neue Heiligtum angedeihen zu lassen. Wirklich beeindruckend, das Ganze: Gleich am Eingang links ist eine Kapelle der Fortuna, dort kann man sich gegen eine kleine Spende für den Lottoschein die garantierte Gewinnchance sichern. Danach eine Fisch- dann eine Brot und, ganz am Ende, wohl im Sinne der Ökumene, eine türkische Dönerkapelle. Das Hauptschiff ist riesig, was der Mensch braucht, ist dort versammelt. Auch die Organisation ist perfekt, überall laufen Ministranten herum, die dem Irrenden den Weg zu den richtigen Altären weisen. Und erst die Kollekte: man muss nicht lange warten, um seinen Obolus entrichten zu dürfen.
Praktisch, so ein Supermarkt.